Gedenken an die Novemberpogrome
Am Gedenken an die Novemberpogrome nahmen am Freitag, dem 08.11.2024, auch Schülerinnen unserer Schule des Religionskurses von Frau Rieks teil.
Hier ist der Beitrag von Anna, Ilka und Nika zu lesen.
Wir, drei Schülerinnen des Gymnasiums Marienberg, sprechen heute stellvertretend für unseren Religionskurs. Wir haben im Unterricht mehrfach über die Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland und über die Shoa sowie über den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gesprochen. Dennoch fragte eine Mitschülerin vor etwa einem Jahr, was Antisemitismus sei. Wundern Sie sich auch über diese Frage? Wir kennen die Bedeutung des Holocaust als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dennoch wussten wir auf diese einfache Frage spontan keine klare Antwort. Wir erkannten: Antisemitismus ist systematischer Judenhass als Bestandteil einer Verschwörungstheorie, nach der „die Juden“ als Gruppe Schuld an allen Problemen tragen und bekämpft werden müssen. Daraufhin fragten wir uns, was wir gegen Antisemitismus tun können. Klar, widersprechen, wenn wir antisemitische Aussagen hören. Wir wollten mehr.
Wir wollten ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen. Daher haben wir einige Stolpersteine in Neuss geputzt und übernehmen die Patenschaft für zwei weitere. Diese erinnern an Anna und Erna Stein und werden vor der Kapitelstraße 15 verlegt. Anna und Erna waren Schülerinnen unserer Schule Marienberg. Deshalb stehen wir heute an dem Gedenkstein, auf dem 203 Namen von Neusser Jüdinnen und Juden verzeichnet sind, die Opfer des Antisemitismus in der Nazizeit wurden. Jeder dieser Namen erinnert an einen Menschen, der sich vom Leben so viel erhoffte wie wir uns heute. Wir erinnern an das, was in Neuss vor 86 Jahren geschah.
Im Jahr 1933 gehörten zur Neusser Synagogengemeinde 227 Juden; das war ein Bevölkerungsanteil von 0,4 Prozent. Ab 1938 ging die Gemeindemitgliederzahl über die folgenden Jahre immer weiter zurück. Am 29. November 1942 wurde öffentlich mit den zynischen Worten gemeldet, Neuss sei „judenrein“. Vor 100 Jahren gab es unter den Juden in Neuss viele Fabrikanten, Unternehmer, Händler. Anfang 1935 waren in Neuss nur noch 38 jüdische Geschäfte und Agenturen registriert. Trotzdem betrieb die Kreisleitung der NSDAP das weiter, was wir heute „Arisierung“ nennen. Juden verloren ihre Geschäfte unter hohen Verlusten. Auch als Handelsvertreter durften Juden nicht mehr arbeiten.
Am 9. November 1938 stürmten Neusser und Düsseldorfer SA-Leute die Synagoge in Neuss und verwüsteten sie. Anschließend wurde sie niedergebrannt, wofür der Führer der Neusser Ärzteschaft das Benzin besorgte. In den frühen Morgenstunden demolierten SA-Leute die wenigen jüdischen Geschäfte, die es noch gab. Die Wohnungen der jüdischen Mitbürger wurden verwüstet, die Bewohner verhaftet, gequält, misshandelt und durch die Straßen der Stadt gejagt. Schäden mussten die jüdischen Geschäfts- und Wohnungsinhaber selbst beseitigen und außerdem „Sühne“ leisten. Versicherungsansprüche wurden zugunsten des Deutschen Reichs eingezogen.
Dieses Jahr 1938 und die Folgezeit brachten weitere Maßnahmen, die das geistige, seelische und körperliche Leben der jüdischen Mitbürger vernichtete. Dem Terror zu entkommen war zu diesem Zeitpunkt schon sehr schwierig, unmöglich wurde es nach dem Ausbruch des 2. Weltkrieges. Schon im Oktober 1938 und systematisch ab Oktober 1941 wurden Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.
Von all diesen Maßnahmen war die Familie von Anna und Erna Stein betroffen. Ihr Vater Hermann Stein, geboren 1877, hatte zuerst als Pferde- und später als Möbelhändler gearbeitet. Sein Geschäft lag in der Kapitelstraße 15. Der älteste Sohn Max, geboren 1911, arbeitete als Handlungsreisender für die „Kölner Farbenfabrik“. Sein Bruder Walter, geboren 1912, arbeitete als Kaufmannsgehilfe im Warenhaus der Gebrüder Ahlsberg, dessen Geschäftsführer in Neuss der Kaufmann Gustav Josephs war. Max und Erna sind 1934/39 im Alter von 23 beziehungsweise 22 Jahren aus Deutschland ausgewandert. Sie sind damit dem Berufsverbot zuvorgekommen. Anna Stein, geboren 1915, arbeitete als Haushaltsgehilfin. Sie zog ab 1937 im Alter von 22 Jahren mehrfach im Deutschen Reich um, bis sie sich in Birmingham, England, niederlassen konnte. Erna Stein, geboren 1917, zog im Alter von 20 Jahren über Düsseldorf ebenfalls nach Birmingham. Hier heiratete sie den Briten Irwin M. Brauner. Im Jahr 1952 gelang Erna und Irwin Brauner die Einwanderung in die USA. Sie lebten in 529 Ernest Street, Jacksonville, Florida. Erna muss zu einem unbestimmten Zeitpunkt zurück nach England gezogen sein, da ihr und Annas letzter Wohnsitz in den Quellen für 1961 in Birmingham dokumentiert wurde. Erna Stein starb am 26. Januar 1999. Der Todestag von Anna Stein ist nicht bekannt. Ob sie Nachkommen haben, wissen wir nicht.
Die Eltern der vier Geschwister waren in Neuss geblieben. Am 27. Oktober 1941 wurden Hermann und Sara Stein in das Ghetto nach Litzmanstadt/Łódź deportiert. Ihr genauer Todestag ist nicht bekannt. Sie wurden 1945 für tot erklärt.
Wussten die Schwestern und Brüder Stein davon? Hatten sie untereinander Kontakt? Davon können wir ausgehen, denn die vier Geschwister stellten im Jahr 1961 als Erben ihres Vaters Anträge auf Entschädigung. Ein „Schaden an Freiheit“ wurde mit 6.450 DM entschädigt; ein „Schaden an Eigentum“ wurde gebühren- und abgabenfrei zurückgewiesen.
(1) Welche Gespräche den Auswanderungen der Geschwister Stein in den Jahren 1934 und 1937 vorausgegangen sind, können wir uns kaum vorstellen. Welche Ängste die Mitglieder der Familie Stein und die anderen Jüdinnen und Juden in Neuss ausgestanden haben, können wir uns ebenfalls kaum denken. Dagegen können wir heute hören, dass Jüdinnen und Juden seit dem Überfall der Hamas auf Israel wieder Todesangst überfällt – nicht nur in Israel, auch in Deutschland. Heute müssen Jüdinnen und Juden in Deutschland erneut antisemitischen Hass und Gewalt erleben.
(2) Am 25. September 2024 lasen wir in der Neuss-Grevenbroicher-Zeitung auf der Seite 1 die Überschrift „Hohe Zustimmung in NRW zu antisemitischen Aussagen“. Die Dunkelfeldstudie „Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft von Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024“ zeigt: Acht Prozent bis zu einem Viertel der Bevölkerung weisen gefestigte antisemitische Einstellungen aus, wenn sie nach ihrer Zustimmung zu bestimmten antisemitischen Aussagen gefragt werden. Fast die Hälfte der Befragten fordert, einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ des Holocausts zu ziehen und „den Holocaust kritisch zu hinterfragen“.
(3) Der jüngste NRW-Verfassungsschutzbericht verzeichnet schon für 2023 einen drastischen Anstieg bei antisemitischen Straftaten um 65 Prozent auf einen Höchststand von 550 Taten. Vor allem seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 schnellt die Zahl hoch. Hinzu kommen Hunderte antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze.
Wir weisen antisemitische Aussagen, Haltungen und Handlungen zurück. Dafür erinnern wir daran, was am 9. und 10. November 1938, davor und danach geschah und bis heute geschieht.
Bert Römgens, Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf/Neuss, bei seiner Ansprache