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Katja Heinrich liest aus dem Tagebuch einer jüdischer Schülerin

Tagebuch jüdische Schülerin (1)
Datum:
21. Juni 2024
Tagebuch jüdische Schülerin (3)-2

Lieselotte Katz hat als 16-jähriges Mädchen im Januar 1933 ein Tagebuch geschenkt bekommen, das noch erhalten ist. Sie floh ebenso wie ihr Bruder 1937/38 aus Grevenbroich, sie nach Palästina, er nach Südafrika. In Palästina trat sie den weiblichen Hilfskräften der britischen Airforce bei, um ihren späteren Mann Helmut Katz aus Köln, der mit ihrem Bruder auf dem selben Schiff nach Südafrika kam, als Militärangehörige heiraten zu können.

Auszug aus dem Tagebuch:

Dienstag, den 30.01.1933

Seit dem 23. haben wir Grippeferien!! Das ist doch einfach fabelhaft! – Bis heute war es wunderbar kalt. Wir sind jeden Tag Schlittschuhe gelaufen. Das ist was Wunderbares. Das sag ich nur, weil ich es schon ziemlich gut kann. Das Lernen und Fallen ist nicht gerade wunderbar.

Heute ist es im Radio durchgegeben worden, dass Hitler Reichskanzler ist. Da haben sich gewiss viele von uns Leuten erschreckt! Aber wozu das? Man sagt bei uns: fast alle Führer der einzelnen Parteien haben es versucht, dann soll Hitler auch mal versuchen, eine Besserung zu schaffen. Er ist ja sehr judenfeindlich, aber seine Drohungen wird er hoffentlich nicht so ausführen.

05.02.1933

Ich stehe oben auf meinem Zimmer am Fenster. Unten marschieren die Nazis vorbei. Heute ist „brauner Tag“. Sie stehen hier auf der Straße wie eine braune Mauer mit roten Streifen. Auf Kommando und Musik setzen sie sich in Bewegung. Es sieht geordnet aus. Aber Walter flucht hier nebenan in allen Variationen. Er hat recht!! Diese ekelhaften „Prischesköppe“.

Morgen  bekommen wir eine neue Lateinlehrerin bis Ostern nur. Ich bin mal gespannt was das für `ne Tucke ist. Aber Tucke hin, Tucke her, wenn sie mir Ostern ne „Zwei“ gibt, ist sie mir gut. Hoffen wir das Beste!

06.02.1933

Heute die ersten zwei Lateinstunden bei Frl. Rügenberg. Keine Spur von Tucke, im Gegenteil sehr nett. Aber dann Turnen! Ach, hat die Obertertia eine Wut gehabt! Sie hat uns hin- und hergejagt, ich bin so müde.

Außerdem hab´ ich eine Bild von der dämonisch schönen Greta geschenkt bekommen.

Dann hab´ ich mit Mutti Einkäufe gemacht. Sehr unruhig und großer Menschenauflauf in der Stadt, viele Nazis. Warum, weiß ich nicht. Sonst nur Regen, Regen … müde, Gute Nacht!

Tagebuch jüdische Schülerin (2)

An einer „Wand der Erinnerung“ sind im Gymnasium Marienberg noch die Namen der ehemaligen jüdischen Mitschülerinnen präsent. Doch was ist so eine knappe Erwähnung im Vergleich zu der Möglichkeit, eines dieser Mädchen noch einmal sozusagen zu Wort kommen zu lassen? Holocaustüberlebende, die von ihren Erlebnissen berichten könnten, gibt es immer weniger. Doch es gibt andere Quellen – und aus einer solchen schöpfte die Schauspielerin Katja Heinrich. Sie las auf Einladung der Schule aus den Tagebüchern von Lieselotte Katz vor, die das Mädchengymnasium besuchte, bis es ihr von den Nationalsozialisten verboten wurde.

Als deren Führer Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wird, ist Lieselotte zunächst bester Laune. „Seit dem 23. haben wir Grippeferien! Das ist doch einfach fabelhaft“, notiert sie in dem Tagebuch, das sie gerade erst geschenkt bekommen hat. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten, von der sie im Radio hört, nimmt die damals 16-Jährige noch unbekümmert auf. „Da haben sich gewiss viele Leute von uns erschreckt! Aber wozu das? Man sagt bei uns: fast alle Führer der einzelnen Parteien haben es versucht, dann soll Hitler auch mal versuchen, eine Besserung zu schaffen.“ Dass Hitler judenfeindlich ist, weiß sie natürlich. „Aber seine Drohungen wird er hoffentlich nicht so ausführen.“

Diese Hoffnung verfliegt rasch. Nur zwei Monate später steht das Mädchen in der elterlichen Wohnung an der Orkener Straße in Grevenbroich sechs bewaffneten SA-Angehörigen gegenüber. Sie ist mit ihrem Bruder Walter allein, die als wohlhabend geltenden Eltern haben einen Termin in Bedburg. Die Eindringlinge muss das Mädchen durch die ganze Wohnung führen und zusehen, wie sie Möbel aufbrachen, Geld und Schmuck an sich nahmen. Die Täter wurden ermittelt, aber nie verurteilt.

Das Schicksal von Lieselotte Katz, die ihre Eltern im Holocaust verlor, selbst aber 1938 nach Palästina fliehen konnte, ist gut dokumentiert. Dazu trug auch die Facharbeit von Romy Hemmer bei, die vor zwei Jahren im Geschichtskurs entstand. Im vergangenen Sommer konnte Schulleiter Norbert Keßler am Marienberg auch Joan Noble empfangen, die Tochter von Lieselotte Katz, die der Geschichte ihrer Mutter nachspürte und auch Einblick in die Stammrolle der Schule nahm.

„Keiner will hier Vergangenes vergessen oder hinter sich bringen“, sagte Geschichtslehrer Martin Vliegen. „Selbst die Lesung überlieferter Texte hat uns sehr berührt“, fügt er mit Blick auf die Veranstaltung mit Katja Heinrich hinzu. „Die Mädchen zeigen eine geschichtliche Verantwortung, die wir Erwachsene ihnen oft nicht zugetraut haben.“

Olaf Gruschka